13 Millionen junge Stimmen bleiben bei den Bundestagswahlen unberücksichtigt, weil Minderjährige kein Wahlrecht besitzen. Doch nur wer wählt, bekommt in der politischen Debatte Gewicht. Sebastian Heimann, Geschäftsführer des Deutschen Familienverbandes, stellt eine wirkungsvolle Lösung vor. Anders als der provokant formulierte Titel annehmen lässt, geht es dabei nicht darum, jemanden das Wahlrecht zu entziehen.

Ich sehe es förmlich vor mir, wie sich die Leser über meinen Appell in der Artikelüberschrift aufregen – und das zu Recht: den Rentnern und Betagten das Wählen verbieten? Wie kann er denn? Das geht doch nicht! Doch genau mit jener Selbstverständlichkeit wird jungen Bundesbürgern – den unter 18-jährigen – das Wählen verboten.

Um es klarzustellen: Ich will niemandem das Wahlrecht nehmen. Weder den Alten, den Kranken, noch den Jungen. Ganz im Gegenteil. Für mich bedeutet Demokratie, dass jeder Bundesbürger ein Wahlrecht haben muss – und zwar von Geburt an. Das Wahlrecht ist schließlich eine tragende Säule unseres demokratischen Rechtsstaates: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, steht in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes. Unser Wahlrecht ist für die Funktion des Staates so dermaßen wichtig, dass es durch die so genannte Ewigkeitsgarantie (Art. 73 Abs. 3 GG) vor jeglicher grundgesetzlicher Änderung geschützt ist. Keine Parlamentsentscheidung kann den Wesensgehalt des Wahlrechtsartikels ändern. Es geht schlichtweg nicht.

Erst Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes schränkt das Wahlalter auf die Vollendung des 18. Lebensjahrs ein. Eine wirkliche Begründung für die Beschränkung des Wahlalters liefert nicht einmal die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Selbst verweist es auf die „Tradition“. Doch kann eine tradierte Handlungsweise tatsächlich so weit reichen, Grundrechte beschränken zu können? Dies ist mehr als fraglich: juristisch wie auch politikwissenschaftlich. Eine Tradition darf kein Grundrecht außer Kraft setzen.

Der bestehende Wahlrechtsausschluss von Minderjährigen bedeutet nichts anderes, als dass 13 Millionen junge Stimmen bei Bundestagswahlen unberücksichtigt bleiben. Das sind 15 Prozent der deutschen Bevölkerung. Oder ein Fünftel der Wahlberechtigten. Tatsache ist, dass es keine größere gesellschaftliche Gruppe gibt, die durch bestehende Gesetze systematisch am Wählen gehindert wird. Damit stehen Minderjährige nicht einmal auf der Stufe von Hoch- und Landesverrätern, die nach § 45 des Strafgesetzbuches maximal zu einem Wahlrechtsverlust von fünf Jahren verurteilt werden können. Die Frage ist berechtigt: Warum dürfen Minderjährige eigentlich nicht wählen?

Der Bundestag hat ein demokratisches Legitimitätsdefizit

Als Grundrecht steht das Wahlrecht jedem Bundesbürger mit Beginn des Lebens zu, denn Grundrechte erwirbt man grundsätzlich qua Geburt. Dennoch wird Minderjährigen das Wahlrecht auf Bundesebene bis zum 18. Lebensjahr vorenthalten. Damit hat der Bundestag ein demokratisches Legitimitätsdefizit. Durch den Wahlrechtsausschluss werden die Minderjährigen von den Abgeordneten des Bundestages nicht vertreten. Die Minderjährigen stehen als Nicht-Wähler per Gesetz außerhalb des demokratischen Willensbildungsprozesses. Über sie wird entschieden, sie selbst jedoch können nicht mitentscheiden.

Die ehemalige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD), die ebenfalls Präsidentin des Deutschen Familienverbandes gewesen ist, kritisiert in ihrem Buch „Lasst unsere Kinder wählen!“ die politische wie auch juristische Handhabung des grundgesetzlich geschützten Wahlrechts bei Minderjährigen. Sie sagt, dass das Wahlrecht vom Volke ausgehe, nicht vom volljährigen Volke. Im September 2020 ergänzte Jens Brandenburg (FDP), Mitglied des Bundestages, auf Twitter die Kritik am bestehenden Minderjährigenausschluss:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – nicht vom volljährigen, strafmündigen, reifen, politisch informierten oder einkommensteuerzahlenden Volke, sondern einfach nur „vom Volke“. Das Wahlrecht ist kein Zugeständnis, sondern ein Grundrecht.

Als ich diesen Aspekt bei der Vorstellung des Wahlrechts ab Geburt einst vor Mitgliedern des Familienausschusses im Bundestag zur Sprache brachte, kam es zu einem kleinen Eklat. Ich erklärte dem damaligen Ausschussvorsitzenden Paul Lehrieder (CSU), dass der Bundestag ein ungelöstes Legitimitätsdefizit hätte, da die Abgeordneten nur einen Teil der Bundesbürger repräsentieren können – und zwar ausschließlich den des volljährigen und wahlberechtigten Volkes. Natürlich konnte ein Mandatsträger das nicht unwidersprochen stehen lassen. Doch das Problem des Wahlrechtsausschlusses der U18-Generation besteht bis heute unverändert fort.

Nennt mich einen Radikaldemokraten

Die Corona-Krise hat eindrucksvoll gezeigt, dass die Interessen von Kindern und ihren Eltern schnell aus dem Blickfeld der Politik geraten. Familien haben in der größten Krise seit Beginn der Bundesrepublik viel geschultert. Durch die Vereinbarung von Familie, Beruf und Homeschooling hat nicht nur die körperliche, sondern oftmals auch die psychische Gesundheit von Familien gelitten. Fakt ist: Die Stimme der Jugend, die Stimme der Familien an sich, wurde von der Politik nicht gehört. Selbst die engagierte Lobbyarbeit der etablierten Familienverbände stieß immer wieder auf unsichtbare Barrieren bei Abgeordneten und in den Ministerien. Bis zum Ende ihrer Amtszeit hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht einmal ihr Versprechen nach einem Familiengipfel umgesetzt. Im kürzlich eingerichteten Krisenstab der Bundesregierung fehlt es ebenfalls an der Vertretung der Familien. Nicht einmal das Bundesfamilienministerium wird an den Beratungen beteiligt. Nur das Wahlrecht ab Geburt allein kann den Belangen von Eltern und ihren Kindern in der politischen Debatte wirkungsvoll Geltung verleihen. Denn: Nur wer wählt, zählt!

Ein Wahlrecht von Geburt mag zunächst lächerlich klingen. Ich kenne die Reaktion aus vielen Gesprächen. Es hört sich zunächst abwegig, unerhört und gar aufrührerisch an. Aber je ernsthafter man sich mit der Möglichkeit eines wirklich allgemeinen Wahlrechts beschäftigt, je intensiver man in die Materie eintaucht, desto offensichtlicher wird die Notwendigkeit nach einer Wahlrechtsevolution. Man kann mich in diesem Kontext gerne einen Radikaldemokraten nennen, aber betrachtet man die Entwicklung des Wahlrechts in Deutschland, stellt man eine historische Konstante fest: Das Wahlrecht befindet sich im ständigen Wandel zur Jugend hin. Auch das Bundesrecht kennt – zumindest zeitweise – die Minderjährigenwahl. In einem bisher einmaligen Vorgang wählten Minderjährige am 19. November 1972 den 7. Deutschen Bundestag, da das Wahlalter und die Volljährigkeit bei dieser Bundestagswahl auseinanderfielen. Weite Teile der U18-Wähler blieben und bleiben aber weiterhin vom Wählen ihrer politischen Repräsentanten ausgeschlossen.

Unter der Schirmherrschaft von Renate Schmidt hat der Deutsche Familienverband eine bundesweite Initiative zur Einführung des Wahlrechts ab Geburt gestartet (www.wahlrecht.jetzt). „Spätestens seitdem junge Menschen für den Klimaschutz auf die Straße gehen, ist deutlich geworden, dass Kinder eine klare politische Meinung haben und diese deutlich zum Ausdruck bringen. Es ist an der Zeit, dass wir den jungen Menschen das wichtigste demokratische Grundrecht gewähren und damit der Zukunft eine Stimme geben“, sagt René Lampe, Vizepräsident des Deutschen Familienverbandes.

Die Wahlrechtsinitiative hat zahlreiche prominente Unterstützer in ihren Reihen. So fordern Bundestagspräsident a.D. Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagsvizepräsident a.D. Hermann Otto Solms (FDP) und mehrere aktive Abgeordnete des Bundestages, wie Ingrid Arndt-Brauer und Swen Schulz (beide SPD), ein Wahlrecht ab Geburt. Auch ehemalige Landesminister wie Klaus Zeh (CDU) und Steffen Reiche (SPD), der Parlamentarische Staatssekretär a.D. Thomas Silberhorn (CSU) sowie der sächsische Staatssekretär a.D. Albin Nees (CDU) stehen hinter einer Wahlrechtsreform. Zu den klaren Befürwortern auf Seiten der Wissenschaft zählen Prof. Dr. Hermann Heußner von der Hochschule Osnabrück, Prof. Dr. Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance und Prof. Dr. Axel Adrian, Honorarprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg, der ein Standardwerk zum Familienwahlrecht veröffentlicht hat.

Keine Gründe gegen das Wahlrecht ab Geburt

Oftmals verlangt man von den potenziellen minderjährigen Wählern, dass sie begründen müssten, warum sie das Wahlrecht erhalten sollten. In dieser Annahme liegt bereits der erste Fehlschluss. Nicht derjenige, der seine Grundrechte wahrnehmen will, ist in der Begründungspflicht, sondern derjenige, der jemandem die verfassungsmäßigen Rechte verweigern will.

In der Debatte um ein Wahlrecht ab Geburt höre ich zumeist folgende zwei Argumente:

Nr. 1: Kinder seien nicht reif zum Wählen

Was bedeutet es eigentlich, zum Wählen reif genug zu sein? Als Politikwissenschaftler könnte ich einwenden, dass ich mich über viele Jahre mit politischen Systemen, mit dem Wahlrecht und der Geschichte der Parteienlandschaft in der Bundesrepublik beschäftigt habe. Das wäre ein Punkt für mich. De facto müssten also alle anderen, außer Politikwissenschaftler, vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Oder etwa nicht?

Ein allgemeines und freies Wahlrecht macht die intellektuelle Leistung eines Menschen eben nicht zum Gegenstand der Wahlrechtsbefähigung. Eine 15-Jährige kann ihre Entscheidung vielleicht besser abschätzen als der 85-jährige Greis, der 14-Jährige besser als ein 45-Jähriger, der in psychiatrischer Intensivbehandlung ist. Der paradoxe Unterschied ist, dass Minderjährige nicht wählen dürfen. Der Greis und der Kranke dürfen es jedoch uneingeschränkt. Selbst unter Alkoholeinfluss könnte ich wählen gehen und es gebe keine rechtliche Handhabe, mir das Wählen zu verbieten.

Selbst das Bundesverfassungsgericht urteilte 2019, dass dementen Menschen und psychisch Erkrankten das Grundrecht wählen zu dürfen, nicht entzogen werden darf. Daher frage ich, mit welcher Begründung die Reife als Maßstab genommen wird, um Minderjährigen das Wahlrecht zu verwehren? Die Reife ist schlichtweg kein geeignetes Kriterium zur Versagung eines Wahlrechts.

Nr. 2: Ein Kleinkind kann nicht wählen

Es besteht kein Zweifel daran, dass ein Kleinkind nicht wählen kann. Doch es erwirbt mit der Geburt Grundrechte, wie das Grundrecht auf Würde (Art. 1 GG), das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 GG) sowie das Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 GG). Ein Minderjähriger, sei es auch ein Baby, kann ein Millionenvermögen erben, kann Aktionär oder Eigentümer eines Unternehmens sein.

Die Rechtsfähigkeit eines Menschen beginnt grundsätzlich mit der Vollendung der Geburt (§ 1 BGB). Dort, wo es vom Gesetzgeber für nötig empfunden wird, sind Eltern die natürlichen Vertreter ihrer Kinder (Art. 6 GG sowie § 1626 ff. BGB). Sie haben nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, die Interessen ihrer Kinder nach bestem Wissen und Gewissen zu vertreten. Diese Regelung ist so alltäglich, dass niemand nur ansatzweise ihre Legitimität infrage stellt. Die Gründerväter und -mütter des Grundgesetzes haben wohlweislich den Eltern die Erstverantwortung für ihre Kinder übertragen. Eltern sind die natürlichen Stellvertreter ihrer Kinder bis diese selbst in der Lage sind, ihre Angelegenheit zu besorgen. Dies umfasst die Religionswahl, die Schulbildung oder medizinische Eingriffe. Nur beim Wahlrecht wird die Stellvertretung bis dato ausgeschlossen.

Der Deutsche Familienverband schlägt beim Wahlrecht ab Geburt vor, dass die Eltern ihre Kinder so lange beim Wählen vertreten, bis die Kinder selbst in der Lage sind, ihr Wahlrecht auszuüben. Damit würde sichergestellt werden, dass alle Altersklassen im demokratischen Prozess berücksichtigt werden.

Bereits jetzt ist die Stellvertretung beim Wählen in vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Rechts etabliert, sei es im Vereins-, Genossenschafts- oder Aktienrecht. Auch die ältesten Demokratien der Europäischen Union kennen das Stellvertretungswahlrecht, wie beispielsweise Großbritannien (Proxy Voting) oder Frankreich (Vote par procuration). Auch die Niederlande, Polen oder Kanada und Indien – als größte Demokratie Asiens – kennen die Wählerstellvertretung. Die Stellvertreterwahl ist daher gar nicht so abwegig und urdemokratisch.

Fazit

Zwischen 2020 und 2035 wird der Anteil der Rentner um ca. 22 Prozent, also von 16 Millionen auf voraussichtlich auf 20 Millionen Menschen steigen. Das bedeutet, dass bis zu 43 Prozent der Wähler 67 Jahre und älter sein werden. Bevölkerungswissenschaftler gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2050 die zahlenmäßig größte Wählergruppe die der 80- bis 85-jährigen Frauen sein wird. Politik ist grundsätzlich an Mehrheiten gebunden. Es steht außer Frage, dass die politischen Interessen der älteren Generation mehr Gewicht haben werden als die der jungen, zumal diese weder politisch repräsentiert werden noch selbst mitwählen können.

Die Einführung eines Wahlrechts ab Geburt ist kein Kurzstreckensprint. Es gleicht einem Marathon- und Hindernislauf auf dem Weg zu einem allgemeinen und diskriminierungsfreien Wahlrecht für jeden Bundesbürger. Vor über 100 Jahren wurde Frauen das Wahlrecht mit einer derartigen Selbstverständlichkeit vorenthalten, wie wir es uns heute gar nicht vorstellen können. Selbst Menschen, die zur Besorgung ihrer alltäglichsten Dinge auf medizinische Unterstützung angewiesen sind, oder jene, die ihre Umwelt kaum noch wahrnehmen können, dürfen wählen. Es gibt selbst Stimmen aufseiten der Partei Die Linke, die Ausländern das bundesdeutsche Wahlrecht zugestehen wollen. Kindern aber nicht. Warum?

Grundrechte gelten von Geburt an, nicht erst ab Volljährigkeit. Doch wenn es um das Wahlrecht der jungen Generation geht, herrscht in der Regel Ablehnung, Unverständnis oder Schweigen. Ohne Kinderstimmen verfallen jedoch die Bedürfnisse und Interessen von Kindern und ihren Eltern im politischen Raum. Das zeigt sich am Umgang mit Familien während der Corona-Pandemie, an der zögerlichen Entwicklung des Elterngeldes, am Zustand der Bildungseinrichtungen, an der Höhe des Kindergeldes und der unzureichenden Anerkennung der Kindererziehung in der Rente.

Es ist längst Zeit, die Kinder an unserer Demokratie ernsthaft zu beteiligen. Zu lange haben wir auf die Stimmen der Zukunft verzichtet.

Zum Autor

Sebastian Heimann hat Politische Wissenschaften und Öffentliches Recht an den Universitäten von Heidelberg und Breslau studiert. Seit 2011 ist er Bundesgeschäftsführer des Deutschen Familienverbandes (DFV).

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