Die Schließung von Schulen stellt Familien vor enorme persönliche und finanzielle Herausforderungen. Familien leiden an der monatelangen Dauerüberlastung zwischen Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und Homeschooling. Das haben inzwischen mehrere Studien deutlich nachweisen können. Eine Zeit lang ist der Wegfall von Bildungseinrichtungen durch Eltern kompensierbar, aber es kann kein Dauerzustand sein.

Über das Homeschooling unterhalten wir uns heute mit Nina Stahr. Sie ist dreifache Mutter, arbeitete als Referendarin im Oberstufenzentrum in Neukölln sowie in einem Gymnasium in Grunewald. Seit 2006 ist sie Mitglied bei den Grünen und seit Dezember 2016 Landesvorsitzende in Berlin. Nina Stahr kandidiert im Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf für einen Sitz im Bundestag. Mehr Informationen finden sich auf ihrer Webseite, auf Twitter sowie auf ihrem Facebook-Profil.

Frau Stahr, Sie sind Mutter von 3 Kindern, sehr aktiv in der Berliner Landespolitik tätig und kandidieren gleichzeitig für den Bundestag. Wie schaffen Sie es, all das – und jetzt noch mit dem Unterricht zu Hause – unter einen Hut zu bringen?

Wir haben das Glück, dass unsere Kinder alle noch Kitakinder sind, so dass wir zumindest keinen Unterricht zu Hause machen mussten. Aber natürlich haben wir den Anspruch, diese schwierige Zeit für die Kinder so gut wie möglich zu gestalten und haben versucht, ein bisschen etwas vom üblichen Kitaprogramm auch zu Hause zu machen – wie basteln, experimentieren oder Musik machen.

Das ging nur, weil mein Mann in Kurzarbeit war, anschließend Kinderkrankentage genommen hat und Vollzeit für die Betreuung unserer Kinder da sein konnte. Neben meinem Job hätte ich das nicht hinbekommen. Das ist aber genau das Problem: dass Homeoffice und Kinderbetreuung nicht parallel stattfinden können – dieses Problem wurde von der Bundesregierung allerdings völlig ignoriert.

Alleinerziehende Eltern oder Eltern die beide arbeiten mussten – womöglich nicht mal im Homeoffice – standen vor kaum lösbaren Betreuungsproblemen. Die hätte man mit einem Corona-Elterngeld verhältnismäßig einfach lösen können – aber dies war leider keine Priorität für die Bundesregierung.

Die Eindämmungsmaßnahmen in der Corona-Pandemie haben Familien hart getroffen. Das gilt besonders für Schulkinder. Hat die Krise Auswirkungen auf die Lernergebnisse von Kindern? Sind Kinder Verlierer dieser Krise?

Natürlich hat die Krise Auswirkungen auf die Lernergebnisse. Aber das sollte nicht allein im Fokus stehen. Viel wichtiger sind die psychischen und sozialen Folgen. Denn ja, Kinder und Jugendliche sind die Verlierer der Krise – sie wurden kaum mitgedacht und haben selbst keine große Lobby. Kinderrechte wurden mit Füßen getreten und ich mache mir Sorgen, dass das auch Folgen für unsere Demokratie haben wird. Kindern und Jugendlichen wurde vermittelt: wer am lautesten schreit, bekommt, was er will, während die Schwächsten in der Gesellschaft keine Rolle spielen. Ist das wirklich die Art und Weise, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen?

Wenn wir uns jetzt damit beschäftigen, was wir für Kinder und Jugendliche nach der Krise tun müssen, dann sollten für mich deshalb genau diese Themen im Fokus stehen. Und ich wünsche mir, dass Schulen genau daran mitarbeiten: dass sie Raum für Begegnung und Austausch bieten und Beziehungsarbeit in den Fokus stellen und den Schülerinnen und Schülern vermitteln, dass es jetzt gerade nicht darauf ankommt, ob sie in Mathe eine super Note haben oder nicht, sondern darum, dass es ihnen erstmal grundlegend gut geht.

Natürlich müssen wir im nächsten Schritt dann auch schauen, wie wir die Lernrückstände des vergangenen Jahres aufholen können. Manche Familien haben das mit dem Homeschooling super hinbekommen, für andere war es eine kaum zu bewältigende Herausforderung – die Heterogenität der Lerngruppen nimmt also enorm zu.

Aber ich halte es für den falschen Weg, den Kindern und Jugendlichen, für die die vergangenen Monate ohnehin besonders schwer waren, gerade jetzt die Ferien noch mit Nachhilfeunterricht zu überladen. Stattdessen müssen wir in den kommenden Jahren nach und nach aufarbeiten, was verloren gegangen ist. Dazu bedarf es einer Entschlackung der Lehrpläne und mehr binnendifferenzierten Unterricht. Ich würde mir aber auch generell ein Umdenken in der Schule wünschen: natürlich ist ein Schulabschluss die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben mit einem selbst gewählten Beruf etc., und dafür muss man natürlich Inhalte vermitteln – aber Schule ist eben so viel mehr als Wissensvermittlung.

Viele Lehrkräfte machen einen großartigen Job und sehen ihre Verantwortung, die über pure Wissensvermittlung hinaus geht, aber in unserer alten Schulstruktur sind Themen wie Beziehungsarbeit noch kaum verankert.

Wird Corona der Motor der Digitalisierung unserer Bildungslandschaft werden?

Das hätte ich mir gewünscht. Und es wäre dringend nötig. Corona hat gezeigt, wie weit wir hier zurückstehen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Deshalb müssen hier sowohl die Bundes- als auch die Landesregierungen in den kommenden Jahren nachhaltige Programme aufsetzen: das fängt bei der Anbindung von Schulen ans Internet mit ausreichender Bandbreite an, geht über Endgeräte für alle Lehrkräfte sowie Schüler und Schülerinnen sowie passende Software und Lernplattformen bis zur Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte.

Auf keinen Fall dürfen wir jetzt denken: nun haben sich das ja alle selbst angeeignet, wir sind viel weiter als vor einem Jahr. Denn die Wahrheit ist: auch nach einem Jahr Pandemie sind wir beim Thema Digitalisierung der Bildungspolitik mit wenigen Ausnahmen noch im Mittelalter.

Welche Erwartungen haben Sie an Lehrer und Schulen in der Krise? Hat Homeschooling gut funktioniert?

Das war sehr unterschiedlich. Und ob es funktioniert hat oder nicht, hing viel zu sehr vom Engagement einzelner Lehrkräfte und/oder Schulleitungen ab. Es gab Lehrkräfte, die einen großartigen Job gemacht haben, die bis spät in die Nacht sich selbst digitale Tools angeeignet haben, um ihre Schülerinnen und Schüler gut unterrichten zu können.

Und auf der anderen Seite gab es Lehrkräfte, die wochenlang kaum etwas von sich haben hören lassen, wo die Kinder ein paar Arbeitsblätter bekommen haben und das war’s. Ich möchte hier aber keiner einzelnen Lehrkraft einen Vorwurf machen – dass viele nicht in der Lage waren, ihre Schüler und Schülerinnen so zu betreuen, wie es nötig gewesen wäre. Es liegt vor allem daran, dass die Digitalisierung von den zuständigen Ministerien sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene so lange verschlafen wurde.

Wie können wir hier helfen?

Wir müssen aus den Versäumnissen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte lernen und Schule nun endlich moderner aufstellen. Digitale Tools und Unterrichtsmöglichkeiten, die ja nicht nur in Zeiten von Distanzunterricht relevant sind, müssen essenzieller Bestandteil der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften sein.

Es kann doch nicht sein, dass jüngere Lehrkräfte – und dieses Beispiel kenne ich aus mehreren Schilderungen – bis spät in die Nacht noch die Arbeitsblätter ihrer Kolleginnen und Kollegen in PDFs umwandeln und hochladen, weil die Älteren das selbst nicht können. Da haben doch über Jahrzehnte die Bildungsministerien geschlafen, da hätten Fortbildungen gemacht werden und die Angst vor digitalen Medien im Unterricht genommen werden müssen.

In vielen Köpfen sind Kinder vor Bildschirmen immer noch etwas Schlimmes – das muss ein Ende haben und wir müssen endlich die Chancen der Digitalisierung für die Schule nutzen. Und gleichzeitig müssen wir überdenken, was wir in der Schule noch vermitteln müssen: vieles wird in Zukunft von Maschinen erledigt, die wirklich relevanten Fähigkeiten, die es in Schule zu erlernen gilt, sind die sozialen. Auch darauf müssen wir einen stärkeren Fokus legen.

Versuchen wir am Ende einen positiven Ausblick auf die Zukunft. Was können wir aus der Krise Positives mitnehmen? Was hat uns in der Corona-Pandemie stark gemacht?

Während der Krise war vieles möglich, was sonst nicht ging: in vielen Büros konnten Menschen ins Homeoffice, wo es jahrelang nie erlaubt wurde. Eltern durften plötzlich ihre Arbeitszeit flexibler einteilen, um das mit der Kinderbetreuung hinzukriegen.

Ich möchte, dass wir das nach der Krise mitnehmen und ein Recht auf Homeoffice und flexible Arbeitszeitmodelle gesetzlich festschreiben. Das darf aber nicht zu einer Entgrenzung von Arbeit und Privatleben führen. Familien sind die Keimzellen unserer Gesellschaft, sie brauchen gemeinsame Zeit. Deswegen setze ich mich für die 30-Stunden-Woche für Eltern ein.

Sehr geehrte Frau Stahr, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sebastian Heimann (Twitter), Bundesgeschäftsführer des DFV

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