Eine kurze Rezension zum Fachartikel des Sozial- und Finanzexperten Prof. Dr. Martin Werding

Seitdem das Bundesverfassungsgericht in den Verfassungsbeschwerden zu familiengerechten Beiträgen in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung („Elternklagen“) – entschieden hat, mehren sich Kritik und Zweifel an dem Beschluss der Karlsruher Richter.

Bereits im vergangenen DFV-Newsletter (02/2023) mit dem Titel „Verfassungswidriges Verfassungsrecht?“ stellte der Deutsche Familienverband die Position des Landessozialrichters a.D. Dr. Jürgen Borchert vor, der die Elternklagen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Detail juristisch seziert hatte.

Zum ersten Jahrestag des Beschlusses meldet sich Martin Werding, Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum sowie Wirtschaftsweise der Bundesregierung, mit einem Fachbeitrag zu Wort („Nicht sehen, nicht hören, nicht rechnen…“, erschienen in „SGb – Die Sozialgerichtsbarkeit. Zeitschrift für das aktuelle Sozialrecht). Er bringt darin seine Enttäuschung über den Bundesverfassungsgerichtsbeschluss zu den Elternklagen deutlich zum Ausdruck.

Zur Erinnerung: Am 7. April 2022 gab das Bundesverfassungsgericht den klagenden Familien in der Pflegeversicherung recht, wies die Verfassungsbeschwerden jedoch in der Renten- und Krankenversicherung ab. Als Begründung gaben die Verfassungsrichter an, dass der Erziehungsaufwand von Eltern durch die Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung und die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung bereits hinreichend ausgeglichen werde.

Im seinem Beitrag zeigt Werding auf, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit den verschiedenen Positionen zur Funktion und Bedeutung generativer Beiträge in den Sozialversicherungen, also der Erziehung von Kindern, nicht auseinandergesetzt hat („nicht sehen“). Gleichzeitig seien weder Rechtsvertreter der Parteien noch Experten in einer mündlichen Verhandlung angehört worden („nicht hören“).

Die Verfassungsbeschwerden des Familienbundes der Katholiken (FDK) und des Deutschen Familienverbandes stützten sich auf frühere Urteile des Bundesverfassungsgerichts, darunter insbesondere das „Pflegeurteil“ von 2001. In ihren Entscheidungsgründen nahmen die Verfassungsrichter jedoch darauf, wie Werding anmerkt, so gut wie keinen Bezug.

„Nicht rechnen“

Die Richter begnügten sich, auf Kindererziehungszeiten, beitragsfreie Mitversicherung, Elterngeld und sogar Kindergeld/Kinderfreibeträge – hier geht es jedoch um die nicht gegenzurechnende Steuergerechtigkeit – zu verweisen, ohne selbst Berechnungen durchzuführen oder in Auftrag zu geben. Werding bezeichnet dies als „nicht substantiiert“ und lässt verstehen, dass es sich um ablenkende Hinweise handeln könnte.

„Kümmerliches Resultat des Beschlusses ist, dass das BVerfG die derzeitige Ausgestaltung des Beitragszuschlags für Kinderlose in der Pflegeversicherung rügt […]. Weder die Größenordnung des Zuschlags – von derzeit maximal 17,45 Euro im Monat – noch die Abhängigkeit der Effekte vom elterlichen Bruttolohn werden dabei beachtet“, stellt der Autor fest.

Werding, der auch die Zukunft der Sozialversicherungen angesichts der demografischen Alterung und die Belastung zukünftiger Beitragszahler im Blick hat, bilanziert: Es sei „mehr als bedauerlich, dass das Gericht nicht auf Klärung der offenen Fragen dringe, sondern sich aus der Diskussion zurückziehe, ohne zu erklären, was an seiner früheren Rechtsprechung falsch gewesen sein könnte.

Kann das Bundesverfassungsgericht irren? – Diese ungeheuerlich anmutende Frage steht seit der Elternklagen-Entscheidung im Raum, ohne laut ausgesprochen zu werden. Durch die Ausführungen Werdings scheint diese Frage jedoch neue Berechtigung zu erhalten.

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